Das Bridge-Camp auf Burg Rieneck
Originaltext aus dem DBV-Bridgemagazin 10/2009, Autor: Robert Klessing
Mein Sohn ist bereits einer der alten Haudegen auf diesem Camp; er war nun schon 11mal mit dabei – in jedem Jahr seit seiner Geburt. Als ich nun diesen Artikel verfassen wollte, meinte er: Aber es weiß doch jeder, was Rieneck ist!
Nun, wenn er recht hat, bin ich hochzufrieden. Dann haben wir vom Organisationskomitee (Ehepaar Gromöller, Ehepaar Klessing und Ludger Silva) unseren Job über die Jahre hinweg ja prima hinbekommen. Aber vielleicht gibt es ja doch noch Uneingeweihte, die es nicht wissen. Und ich glaube, es lohnt sich, auch mal auf die Veränderungen seit den 90ern zu schauen – es hat sich viel getan, seit ich selbst zum ersten Mal (und zwar 1995) in Rieneck war.

Neue Traditionen
Zunächst aber das, was seit mindestens 10 Jahren gleich geblieben ist: das Bridgecamp findet alljährlich im Sommer auf der Pfadfinderburg Rieneck im Spessart statt. Das Rieneck-Komitee hat ein lückenloses Programm von An- bis Abreisetag zusammengestellt. Und natürlich spielen wir auch immer noch Bridge.
Von mittags bis morgens.
Wundert Sie die Zeitangabe? Verständlich.
Spätstück & Mitternachtssnack
Im Rieneck-Camp kann es zu regelrechten Jetlag-Problemen kommen, insbesondere nach dem Camp, wenn man wieder in den normalen Rhythmus finden möchte. Die weite Reise in den Spessart wird nämlich von einer Zeitumstellung begleitet, die der eines Transatlantikfluges nahe kommt.
Vier bis fünf Stunden Zeitverschiebung
Frühstück gibt es beispielsweise erst um 12.30 Uhr – vorher sind nämlich ohnehin nur ein paar Familien wach. Okay, vor allem sind die Pänz wach, die Eltern halten sich noch etwas wackelig an ihrem Kaffee fest. Das „Spätstück“ und der gesamte Essensplan ist eine der vielen unauffälligen, aber unwahrscheinlich angenehmen Neuerungen der letzten Jahre. Keiner wünscht sich die Zeiten zurück, als man zum Frühstück Scholle mit Salzkartoffeln bekam und man viel zu oft vergaß, sich um 18.30 Uhr die Stullen für die Nacht zu schmieren…
Tagesablauf
Unser Tagesablauf ist eben nicht ganz alltagstauglich: nach dem Spätstück folgt das erste Turnier des Tages, und nach der warmen Mahlzeit um 18 Uhr kommt dann Turnier #2. Damit die nimmermüden Bridger auch die Nacht durchhalten, gibt es mittlerweile den Mitternachtssnack – und gerade in diesem Jahr hat sich die Küche damit mal wieder selbst übertroffen.



Nicht nur, dass es neben dem eigentlich „normalen“ Abendessen mit Brot und Aufschnitt-Platten immer auch Salate und Joghurt gab – in diesem Jahr wurde jedes Mal auch etwas Warmes serviert, oft etwas aus dem Ofen (z.B. Nudelgratin). Und dazu wurde noch oft eine richtig italienische Antipasti-Platte aufgetafelt, mit eingelegten Auberginen, getrockneten Tomaten etc. Kein Wunder, dass der Burghof um 23.30 Uhr wie leergefegt war – das ließ sich keiner entgehen.
Auch sonst folgte die für eine Jugendherberge wirklich fantastische Küche unseren Wünschen: es gab immer einen Salat zum Essen, 3x wurde fleischlos gekocht, und für die Vegetarier gab es ebenfalls abwechslungsreiche Gerichte.
Nunc est bibendum
„Jetzt muss getrunken werden“ – denn zu gutem Essen gehört natürlich auch gutes Trinken. Wir haben ein System auf Vertrauensbasis aufgebaut: das Komitee organisiert und stellt Getränke inklusive Kühlschränke bereit, und daneben hängt eine vorgefertigte Tabelle als Strichliste, für jeden Teilnehmer. Als unterschiedliche Getränkesorten standen rund um die Uhr zur Verfügung: 2 Mineralwasser, 4 Limonaden, 2 Schorlen und 2 Bier. Alle 3 Tage wird wieder eine neue Liste ausgehängt, denn man braucht bei sommerlichen Temperaturen eben mehr Platz in der „Apfelschorlen“-Spalte!
Nur wenige werden sich mittlerweile an die Zeiten erinnern, als es noch gar keinen Kühlschrank gab. Damals musste „Warmbier“ genossen werden, weil es keine Möglichkeit gab, es zu kühlen…
Coffee to go
Wir haben außerdem seit einigen Jahren unsere Regina. Regina ist für einige Teilnehmer geradezu unentbehrlich geworden, vor allem morgens. Nun ist Regina auch wirklich brav. Wir sagen ihr, dass sie ab 8 Uhr morgens für Kaffee zu sorgen hat, und das macht sie dann auch, jeden Morgen aufs neue, und das zu Zeiten, wo kaum jemand auf der Burg wach ist. Damit Regina auch keine Mucken macht, haben wir extra 2 Betreuerinnen für sie angeheuert, die noch nachts sorgfältig vorbereiten, dass Regina am nächsten Morgen wieder mit Kaffee aufwartet. Falls das für jemanden komisch klingt: Regina ist unsere 80-Tassen-Kaffeemaschine! Und es wurden nicht wenige „Kaffee-Flatrates“ in Anspruch genommen – kein Wunder bei dem Preis: 6 €/ Woche für immerwährenden Kaffeegenuss. Es wird eben alles zum Selbstkostenpreis angeboten.
Agenda 2009
Kommen wir nun zum Programm, welches von Jahr zu Jahr abwechslungsreicher wird. Denn auch wenn es ein Bridge-Camp ist – „normale“ Bridgeturniere stehen kaum auf dem Programm. Neben dem neuen Haupt-Paarturnier, dem Rieneck-Cup, gibt es das traditionelle Haupt-Teamturnier, eines der bridgesportlich herausforderndsten Ereignisse des Camp. Gab es früher im Anschluss daran immer das sogenannte Vuegraph-Match, in dem der Sieger des Teamturniers gegen das Komitee antrat, so muss sich das Komitee nun seit mehreren Jahren ebenfalls durch die Qualifikation (Swiss mit Halbfinale und Finale) beißen, was bisher dennoch immer gelang.
In diesem Jahr beherbergten wir außerdem die Deutsche Juniorenmeisterschaft – doch dazu gibt es einen eigenen Bericht.
Bridge-Specials
Neben diesen beiden Turnieren gibt es viele Sonderformen des Bridge, die man sonst in der Bridgeszene kaum bis gar nicht antrifft. So sind Speedball (150 Sekunden pro Board), Patton (1/3 Team-, 2/3 Paar-Wertung) und Board-a-match (Teamkampf; jedes Board zählt 2-0, 0-2 oder 1-1) traditionell mit dabei. Aber auch gänzlich neue Varianten werden ausprobiert: so gab es heuer das Dummy Reversal, in welchem der Partner des Ausspielers zum Dummy wird! Oder, aus den letzten Jahren noch in guter Erinnerung, Auf Achse: Nord spielt mit Ost, Süd mit West – da gibt es ganz neue Wahrscheinlichkeitsrechnungen: ein Schnitt von Ost in Richtung Nord gelingt zu 100%…

Schnellsterer
Wir haben nun schon im 3. Jahr mit Gunthart Thamm den schnellsten Turnierleiter der Welt. Nicht nur beim Reden. Unermüdlich dupliziert er Boards (sicher über 2000!) und rechnet auch die seltsamsten Turnierarten mit Bridgemates aus. Das ist wirklich eine Mammut-Aufgabe, denn täglich 1-2 Turniere mit meistens mehreren Gruppen und bis zu 25 Tischen fordern viel Vorbereitung und einen absoluten Überblick.
Früher wurde in einer Gruppe mit handgemischten Boards gespielt, heute haben wir eine professionelle Abwicklung mit allem Komfort – Verteilungen, Laufzettel, ja sogar Privatscores gibt es auf Anfrage. Selbstverständlich herrscht Rauchverbot im Spielsaal.
Nur nicht 5ter!
Die Ergebnisse sind allerdings nicht allzu wichtig. Natürlich will jeder gewinnen, aber viel wichtiger ist es dem einen oder anderen, nicht 5ter zu werden: der muss nämlich die Kühlschränke nachfüllen! So ist dies den auch der Platz, der immer laut (und mit einem gewissen Maß an Schadenfreude) verkündet wird. Aber auch diese Arbeit ist rasch vollbracht, so dass man sich durchaus noch am guten Ergebnis erfreuen darf.
Partnerlust und Partnerfrust
Haben Sie auch oft die Nase gestrichen voll von Ihrem Partner? In Rieneck kein Problem, denn man darf nicht 2x mit einem Partner spielen: „Wer öfter mit demselben zockt, der hat Rieneck voll verbockt“. Also muss man sich für viele Turniere jemanden als Partner suchen. Um diesen Verabredungs-Stress zu erleichtern, gibt es auch einige Losturniere, sowie das traditionelle Individual am ersten Abend. Dabei stehen die Los-Kriterien meistens unter einem bestimmten Motto, z.B. „Alte Säcke und junge Spritzer“. So lernt sich auch kennen, der sonst nicht miteinander gespielt hätte, und manch scheuer Anfänger darf so auch mal mit einem Weltmeister spielen.
Weit mehr als nur Bridge
Was wäre Rieneck ohne die Non-Bridge-Events. Früher gab es immer eine Schnitzeljagd (relativ am Anfang) und eine „Performance“, eine Art Bunter Abend, zum Abschluss des Camps. Letzteres hat sich als beständiges Highlight bis heute gehalten – jedes Jahr verblüffen uns die Teilnehmer mit neuen kreativen und fantasievollen Ideen und Showeinlagen. In diesem Jahr gab es mehrere musikalische Auftritte, Quizshows, Kabarett und Tanzeinlagen. Eine „Mode“-Show mit wichtigen Bridge-Fashion-Trends (was für ein wundervoller „Turkish Expert“ war dabei…) wurde vorgeführt, und altbekanntes Liedgut auf das Rieneck-Camp umgedichtet, eine ungebrochen begeisternde Tradition. So wären die bisher geschriebenenen „Rieneck-Songs“ allein schon abendfüllend.
Schlag den Gro
Seit einigen Jahren wird das Campleben auch durch ein Burgfest bereichert, in dessen Rahmen, oft mit gemütlichem Grillen, schon viele aufregende Highlights stattfanden: Rops (=Klaus Reps) hat uns allen schon mehrere Musical-Aufführungen präsentiert, mit unglaublichem Aufwand an Material und Darstellern. Es gab Karaoke-Shows, den RieneckVisionSongContest, und vor 2 Jahren ein absolutes Spektakulum, den Mittelaltermarkt.
Heuer wurde das Komitee-Urgestein, Michael Gromöller alias „Gro“, in der Show „Schlag den Gro“auf Herz und Nieren geprüft. Ein Team aus 5 Kandidaten versuchte, ihn in 15 Disziplinen zu schlagen – ganz á la „Schlag den Raab“. Jedoch haben jahrzehntelanges Rieneck-Leben den Protagonisten so gestärkt, dass auch die vereinte Kraft der 5 Herausforderer nicht ausreichte, König Gro vom Thron zu stoßen.
Werwolf & Co: Kellertime = Partytime
Des Nächtens spitzen sich die Ereignisse dann zu: das psychologisch hochspannende Rollenspiel „Die Werwölfe von Düsterwald“ zieht seit einigen Jahren immer mehr Bridger in nächtlicher Runde an abgelegene dunkle Versammlungsorte, wo dann unbescholtene Bürger von Werwolfen gemeuchelt werden, Hexen heilende Tränke einsetzen (oder auch nicht) und der Jäger versehentlich einen Bürger erschießt.
Andere spielen in großen und kleinen Runden Gesellschaftsspiele aller Art; es gibt Pokerrunden und Schachpartien, und natürlich auch mal den einen oder anderen Bridge-Tisch, ja sogar nächtliche Turniere werden manchmal spontan selbst organisiert.
Im Burgkeller gibt es Cocktails und Musik (und der „Kellerpolizei“, die erfolgreich das Einhalten der strengen Alkoholregeln überwacht hat); und im Burghof finden sich immer kleine und große Runden zusammen, um über alles und jeden zu reden.


Rieneck forever
So lautet das offizielle Motto im Logo. Jedes Jahr gibt es ein neues T-Shirt, und auch das wird immer professioneller. In diesem Jahr konnte man nicht nur zwischen verschiedenen Schnitten (Damen/Herren), sondern auch diversen Modellen wählen. Und nicht nur T-Shirts werden gestaltet. Der Rieneck-Veteran hat inzwischen eine umfassende Ausstattung: Mütze, Schal, Jacke, T-Shirts, Umhängetasche, Kaffeebecher, Glas und Kartenspiel. Selbstverständlich hat er auch ein Bridgesystem, Rieneck Standard. Für den Komfort im Camp-Leben erhält er außerdem eine tägliche Campzeitschrift, den Zocker, und kann im Internetcafe surfen.
Rieneck ist Gemeinschaft
Damit das alles so funktionieren kann, muss auch jeder der insgesamt rund 150 Teilnehmer mindestens einmal „Sozialdienst“ verrichten: den Burghof fegen, Mülleimer leeren, den Spielsaal aufräumen u.ä. Das hat in diesem Jahr, wo wir es zum ersten Mal auf diese Weise organisiert haben, wunderbar geklappt.
Auch die rund 20 Kinder haben sich glänzend eingefügt und so auch den mitgebrachten Müttern und Vätern ermöglicht, am Bridge- und sonstigem Campleben teilzunehmen. Für die Kleinen wurde der „Rittersaal“ eigens als Spielraum mit eigenem Kinderkühlschrank umfunktioniert. Und für alle Kinder (auch schon Grundschüler!) wurde Minibridge-Unterricht angeboten!

Das Miteinander von Einzelkämpfern und Familien, jung und alt (offizielle Altersgrenze: 35), Neulingen und Rieneckern der erste Stunde, stillen Wassern und Drama Queens, Anfängern und Weltklasse-Spielern – das macht Rieneck wunderbar einzigartig.
Nun beginnt die Zeit zwischen den Rieneck-Camps. Bevor aber angesichts dieser langen Bridge-Dürre-Periode einige Stamm-Zocker verzweifeln: es gibt natürlich auch in diesem Jahr wieder das „ZwiRie“, das Zwischen-Rieneck im Dezember, um die Zeit bis zum nächsten Juli/August zu überbrücken.